Beziehungen ohne Skript
- OneBigYes
- Jul 1
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Updated: Jul 3
Meine Mutter wuchs in den 60er Jahren in einer Großfamilie auf: Mama, Papa, sechs Kinder, Haus, Hof und ein Dackel. Zur Familie gehörte außerdem Emmi, die zwar nicht mit im Haushalt wohnte, aber viel Zeit dort verbrachte. Sie kümmerte sich um die Kinder, erledigte Einkäufe und Besorgungen, saß oft mit am Abendbrottisch. Sie fuhr auch mit der Familie in den Sommerurlaub und nahm an Familienfesten teil. Meine Mutter und ihre Geschwister nannten sie Tante Emmi, obwohl sie eigentlich eine Arbeitskollegin ihres Vaters war und keine Verwandte. Emmi war unverheiratet, hatte keine Kinder und starb mit nicht einmal 60 Jahren an einer chronischen Krankheit.
Ich war Anfang 20, als ich auf einer Familienfeier erfuhr, wer sie wirklich war. Mit einer Menge Rotwein intus klärte mein Onkel mich auf über “die Sache mit Tante Emmi”. Emmi war die Geliebte meines Opas. Sie haben sich auf der Arbeit kennengelernt und waren bis zu ihrem Tod etwa 20 Jahre lang ein Paar. Meine Oma hatte Emmi wohl zunächst abgelehnt, sie aber mit den Jahren akzeptiert und zunehmend in den Familienalltag integriert. In dem katholisch geprägten Umfeld meiner Großeltern muss diese Beziehungskonstellation ein Tabubruch gewesen sein, der aber offenbar stillschweigend toleriert wurde. Meine Mutter sagt, die Sache mit Emmi sei ein offenes Geheimnis gewesen.
Ich habe so viele Fragen, die meine Mutter mir nicht beantworten konnte. Wie war die Beziehung zwischen Emmi und meiner Oma? Wie viel Mitspracherecht hatten die beiden Frauen bei der Ausgestaltung der Beziehungsdynamik? Hat Emmi die Zeit mit den Kindern ihres Partners genossen oder war die geleistete Care-Arbeit der Preis, den sie zahlen musste, um Zeit mit ihm verbringen zu dürfen?
Ich frage mich, wie einvernehmlich diese Dreiecksbeziehung war. Sicher, meine Großmutter hätte Emmi vor die Tür setzen können, doch womöglich hätte sie damit auch ihren Mann verloren. Sich zu trennen, hätte bedeutet, als alleinstehende Frau mit sechs Kindern im konservativen Westdeutschland der 1960er Jahre zurechtzukommen. Auch Emmi hätte sich trennen können oder verlangen, dass mein Großvater sich von seiner Familie löst und sich für ein Leben nur mit ihr entscheidet.
Aber sie tat es nicht. Keine der beiden Frauen entschied sich zu gehen und keine stellte, soweit ich weiß, eine solche Forderung (oder wenn doch, dann blieb sie folgenlos). Das Gefüge Ehefrau-Ehemann-Geliebte blieb über zwei Jahrzehnte bestehen. Vielleicht arrangierten die Frauen sich aus Angst oder aus pragmatischen Gründen, vielleicht aber auch, weil die Konstellation am Ende für alle Beteiligten gut funktionierte. Für meine Mutter und ihre Geschwister zumindest war Emmi eine große Bereicherung. Sie sprechen noch heute, fast 40 Jahre nach ihrem Tod, mit großer Zärtlichkeit von ihr.
In letzter Zeit denke ich oft an Emmi. Ich selbst habe in den letzten Jahren wiederholt die Rolle einer „Geliebten“ oder einer Zweitbeziehung eingenommen – wenn auch unter anderen Vorzeichen und über ein halbes Jahrhundert später. Ich lebe seit meiner Trennung vor vier Jahren in offenen Beziehungskonstellationen und habe in dieser Zeit viele unterschiedliche Dynamiken erlebt. Manche meiner Beziehungen bewegen sich in sehr offenen Beziehungskonstrukten, in denen es wenig Hierarchien und viel Raum für Entwicklung gibt. Manche meiner Beziehungen sind eher casual, da spielt es kaum eine Rolle, ob da noch eine Ehefrau, Kinder oder ein gemeinsames Haus im Spiel sind. Aber zwei dieser Beziehungen mit verheirateten Partnern – eine vergangene, die über zwei Jahre ging, und eine aktuelle, die im letzten Jahr sehr an Tiefe gewonnen hat – holen Emmi plötzlich sehr nah an mich heran.
Ich bin geschieden und lebe mit meinem Sohn in einer Art Wohngemeinschaft. Der Partner, mit dem ich eine sehr innige Beziehung führe, ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern. Unsere Beziehung existiert daneben. Was auf den ersten Blick nach Begrenzung aussieht, ist für mich ein Raum von ungeahnter Weite geworden. Wir führen keinen gemeinsamen Haushalt, teilen wenig Alltag und sind bisher nicht in die Leben der Kinder der jeweils anderen Person involviert. Und gerade deshalb ist unsere Zeit miteinander so intensiv. Oft fühlen sich unsere Dates an wie kleine Urlaube. Wenn wir uns sehen, haben wir nichts zu organisieren und nichts zu erledigen. Da ist eine ganz besondere Leichtigkeit. Es ist eine Verbindung, die sich aus der Freiwilligkeit nährt: Wo stehst du? Wo stehe ich? Was brauchen wir gerade und was nicht?
Diese Offenheit ermöglicht mir, mein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Ich bin unabhängig und treffe alle wichtigen Lebensentscheidungen allein. Und gleichzeitig gibt es da diesen einen Menschen, bei dem ich mich sicher und geborgen fühle, auf den ich zählen kann und der mit der Zeit zu meinem engsten Vertrauten geworden ist. Der Mensch, den ich anrufe, wenn mir etwas besonders Schönes oder etwas besonders Schlimmes passiert, den ich um Rat frage und dem ich meine Geheimnisse anvertraue. Mit dem ich täglich mindestens eine “Guten Morgen” und eine “Gute Nacht” Nachricht austausche und meistens noch viele weitere dazwischen. Der meine Schwächen und Widersprüche kennt und mittlerweile auch die Seiten von mir, die ich selbst nicht leiden kann.
Meine Beziehung sieht anders aus als die von Emmi. Und doch sind da Parallelen, die mich irritieren. Ich frage mich: Was bedeutet es, langfristig in einer Beziehung zu sein, in der es eine „erste“ Partnerin gibt, gegen die ich nie ganz ankommen kann – zumindest nicht im gesellschaftlichen, rechtlichen oder alltäglichen Sinn? Ich bin die, über die nicht öffentlich gesprochen wird. Nicht weil es streng genommen ein Geheimnis wäre, sondern weil es kompliziert ist. Ich tauche nicht auf in Familiengruppen, im Freundeskreis, in Erzählungen auf der Arbeit. Ich nehme Platz ein, aber nur dort, wo gerade Platz gemacht werden kann. Ich bin weder „Single“ noch „verpartnert“ im klassischen Sinne – Ich bin irgendwo dazwischen. Ich habe keine eigene Rolle im sozialen Gefüge meiner Partnerperson. Meine Beziehungserfahrung zählt für Außenstehende weniger, weil es keine gemeinsame Wohnung, keine gemeinsamen Kinder, kein gemeinsames Konto gibt. Ich bin die, die an Silvester und im Urlaub auf den Partner verzichten muss.
Mein Platz ist im Leben meines Partners nicht im gleichen Maße fest verankert wie der Platz seiner Frau. Der Raum für unsere Beziehung ist flexibler – so wie es eben gerade passt.
Ich frage mich manchmal, wie sehr ich mich mit dieser Rolle eigentlich identifiziere und wie freiwillig sie wirklich ist. In der Theorie gefällt mir das Konzept von Offenheit, Selbstbestimmung, Flexibilität. Es gibt Phasen, in denen das für mich gut funktioniert. Und andere, in denen ich mir mehr Raum und mehr Aufmerksamkeit wünsche, ohne das Gefühl zu haben, dadurch zu „stören“. Wie viel Raum darf ich einnehmen, ohne jemanden zu verdrängen? Wie viel Verzicht wird stillschweigend von mir erwartet?
Wenn ich an Emmi denke, frage ich mich, wie sie ihre Rolle gesehen hat. Ob sie sie bewusst gewählt hat, oder ob sie einfach irgendwann in dieser Position gelandet ist. Ich frage mich, ob Emmi sich manchmal einsam gefühlt hat, ausgeschlossen, allein mit den Herausforderungen des Alltags. Oder ob sie sich stark gefühlt hat, weil sie unabhängig war und weil sie und mein Opa ganz bewusst in ihre Partnerschaft investiert haben – nicht weil es einen gemeinsamen Haushalt, Besitz, Kinder gab, sondern einfach weil sie wirklich zusammen sein wollten. Ich kenne beides: Die Kraft, die daraus entsteht, sich bewusst für das Undefinierte zu entscheiden – und die Fragilität, die damit einhergeht.
Was mir in meiner aktuellen Beziehung hilft, ist das klare Benennen dieser Ambivalenz und der Grenzen unserer Beziehung. Ich will die Herausforderungen, die mit meiner Rolle als “die andere Frau” einhergehen, nicht unter den Teppich kehren und vor allem will ich nicht damit allein sein. Denn trotz aller Vertrautheit mit meinem Partner bleibt da ein Gefühl von Unsicherheit. Keine klassische Eifersucht, eher das Bewusstsein, dass mein Platz auf eine andere Art verhandelbar ist als der Platz seiner Ehefrau. Dass es in vielen Lebensbereichen Ungleichgewichte zwischen uns gibt. Manchmal vermischen sich diese Gefühle mit Schmerz aus meiner Vergangenheit – dem Ende meiner Ehe, dem Verlust eines Lebensentwurfs und eines Lebenspartners. Traurigkeit, Sorgen und manchmal Neid verbunden damit, dass ich keinen Co-Parent habe, keine Primärbeziehung, dass ich allein lebe und finanziell auf mich allein gestellt bin. Diese Empfindungen überlagern sich, lassen sich nicht immer trennen von den Gefühlen, die ich in Bezug auf meine aktuellen Beziehungen habe.
Was mir hilft, ist, diese Gedanken und Gefühle auszusprechen, ohne Bewertung und ohne Lösungsdruck. Was ich von meinem Partner brauche, ist die Bereitschaft, auch das Unangenehme mit mir auszuhalten. Auch für ihn ist es wahrscheinlich manchmal nicht leicht zu wissen, dass ich nicht “wunschlos glücklich” bin, sondern mir nach wie vor eine Primärbeziehung wünsche – mal mehr, mal weniger. Wie genau sich unsere Beziehung entwickeln wird, wenn neue PartnerInnen dazu kommen oder bestehende Verbindungen an Intensität gewinnen, wissen wir nicht. Wir haben kein Skript, dem wir einfach folgen können und keinen relationship escalator, von dem wir uns gemütlich auf das nächste Level unserer Beziehung befördern lassen. In diesem Setting trotzdem ein hohes Maß an Verbindlichkeit zu erreichen, ist kein Selbstläufer. Es ist Teil unserer Realität, dass unsere Beziehung wenig bis gar nicht von äußeren Strukturen getragen wird.
Emmis Geschichte zeigt, dass Beziehungen auch dann Bestand haben können, wenn sie sich außerhalb gesellschaftlicher Normen bewegen. Entscheidend ist nicht, ob eine Beziehung in bestehende Kategorien passt, sondern ob sie sich für die Beteiligten stimmig anfühlt und ob sie trägt, was sie verspricht.
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