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Die Gedankenpolizei in meinem Kopfkino

  • Writer: OneBigYes
    OneBigYes
  • Oct 16, 2022
  • 3 min read

Updated: May 28, 2024


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In George Orwell's dystopischem Roman1984 über das Leben in einem totalitären Regime gibt es neben vielen anderen schauerlichen Institutionen auch eine Gedankenpolizei. Aufgabe dieser ist es, die Gedanken der Bürger zu kontrollieren und zu ahnden. Der von Orwell erschaffene Begriff Thoughtcrime [1] beschreibt also Verbrechen, die nur im Kopf stattfinden. Diese Gedankenverbrechen werden verurteilt und bestraft, obwohl sie per definitionem niemals ausgeführt werden. Das klingt erstmal sehr abwegig und absurd. Klar, ist ja auch eine Dystopie. Aber wenn ich ganz ehrlich bin - ich habe so eine Gedankenpolizei auch. Sie ist ziemlich streng, permanent im Einsatz und sehr sehr gründlich. Unter anderem aktiv ist sie in den Einsatzgebieten "Eine gute Mutter" und "Darf man das?". Mit besonderem Eifer kümmert sich meine ganz persönliche Gedankenpolizei auch um meine sexuellen Fantasien. Dabei ist es vollkommen egal ob ich vorhabe, eine Fantasie jemals in die Tat umzusetzen - sie wird trotzdem rigoros analysiert und gegebenenfalls scharf verurteilt.

Dieses permanente Bewerten kann sehr anstrengend sein. Es ist, als würde ich mich ständig selbst beobachten. In der Psychologie wird dieses Phänomen auch als innere Kritikerin bezeichnet. Meine innere Kritikerin hat so viel Macht, dass ich manche Fantasien ganz unterdrücke, einfach weil ich mich vor mir selbst zu sehr dafür schäme. Es gibt Winkel und Ecken meines Kopfkinos, in die ich nur mal ganz kurz hineingeschaut habe, bevor ich sie fluchtartig verlassen und fest verschlossen habe. Typische Gründe: zu unfeministisch, zu pervers oder auch einfach nur what the fuck. Und eigentlich ist es doch schade, dass diese bestimmt sehr anregenden Fantasien jetzt ein trostloses Nicht-Dasein fristen müssen, bloß weil meine Gedankenpolizei das so beschlossen hat.

Mir ist schon klar, dass in der Fantasie alles erlaubt ist. Dass ich niemandem schade, wenn ich mir Szenarien vorstelle, die in der Realität vielleicht illegal, unmoralisch oder sonstwie problematisch wären. Trotzdem fühlt es sich manchmal falsch an - wie ein Verrat an meinen Werten, ein Widerspruch zu meiner Identität. Ist eine Sexfantasie, in der ich mir vorstelle, entführt, vergewaltigt und auf alle möglichen Arten gedemütigt zu werden, nicht letztlich eine (noch dazu wenig originelle) Fortsetzung des Patriarchats? Eine Art Validierung der gewaltvollen Machtstrukturen unserer Gesellschaft? Es nervt mich, dass keine meiner Lieblingsfantasien den Bechdel Test bestehen würde. Jede einzelne folgt stumpf dem Muster "Mann hat Macht über Frau und missbraucht diese Macht mit allen Mitteln als gäbe es kein Morgen".

Mit meinen zu Gewaltorgien neigenden Fantasien bin ich übrigens nicht allein: In einer amerikanischen Studie gaben mehr als die Hälfte der befragten Frauen an, Vergewaltigungsfantasien zu haben [2]. Sogar Vanillas haben also offenbar einen Hang zu Sexfantasien, in denen nicht-einvernehmliche Machtgefälle die Dynamik des Geschehens bestimmen. Warum ist das so?

Esther Perel sagt: "In the crucible of the erotic mind, we bring the most vexing components of love - dependancy, surrender, jealousy, aggression, even hostility - and transform them into powerful sources of excitement." [3] Erotische Fantasien leben also davon, dass wir in ihnen das ausleben, was uns im echten Leben irritiert, verärgert, abschreckt, Angst macht. Das erklärt, warum es mir nicht ausreicht, mir statt einer Vergewaltigungsszene einfach eine BDSM Session vorzustellen. Die Tendenz zu Extremen, die Tabubrüche, das Unerlaubte in ihnen ist es, was Sexfantasien überhaupt erst Intensität verleiht. Perel sagt auch:"Understanding what our fantasies do for us will help us understand what it is we're seeking, sexually and emotionally." [3] Damit meint sie natürlich nicht, dass wir uns grundsätzlich wünschen, unsere Fantasien in die Tat umzusetzen. Sondern, dass die Narrativen unseres Kopfkinos Hinweise dazu geben können, was wir brauchen, um unser sexuelles Potential zu entfalten. Eine Vergewaltigungsfantasie etwa kann ein Hinweis darauf sein, dass ich mir wünsche, begehrt zu werden. Oder dass ich mich nach dem Gefühl des Kontrollverlusts sehne. Sie bedeutet jedenfalls nicht, dass ich den realen Akt einer Vergewaltigung befürworte und sie macht mich daher auch nicht zu einer weniger guten Feministin.

Es schadet also nicht, über die eigenen Sexfantasien zu reflektieren, vielleicht auch mal mit ihnen zu hadern oder sie zu hinterfragen. Und da ist die Gedankenpolizei vielleicht doch manchmal ganz hilfreich. Sie sollte uns nicht den Spaß am Kopfkino verderben und wir sollten auch nicht zulassen, dass wir ihretwegen von Scham- und Schuldgefühlen zerfressen werden. Wenn wir ihr zuhören, kann sie uns aber Hinweise zu tief verinnerlichten Tabus und Glaubenssätzen geben, unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse sichtbar machen und uns gleichzeitig dabei helfen, unsere Grenzen zu wahren und auf uns zu achten. Wie eine Art Kontrollinstanz regt sie uns zur Selbstreflexion an und schärft so immer wieder die Linie zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Denn in der Fantasie ist zwar alles erlaubt. Aber eben auch nur da.


[1] Orwell, G. 1984. Penguin Classics, 2004.

[2] Bivona J, Critelli J. The nature of women's rape fantasies: an analysis of prevalence, frequency, and contents. J Sex Res. 2009 Jan-Feb; 46 (1): 33-45.

[3] Perel, E. Mating in captivity. Yellow Kite, 2007.


 
 
 

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